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Magischer Content vs. Technologiegläubigkeit

Der Erfolg von fantastischen Inhalten setzt voraus, dass sie auch als solche erkannt werden. Haben sie in Zeiten des konsumistisch editierten Netzes überhaupt noch eine Chance? Wenn sich alle mit technisch generiertem Standardcontent zufrieden geben, spielt das dem Content Marketing in die Karten oder eher nicht?

Frank Schätzing hat Freude daran, ans Übermorgen zu denken. Für die Diskussionen mit gutmeinenden Euphorikern der schönen neuen Welt hat er sich einen festen Unterstand gebaut. „Das Menschliche darf nicht verhandelbar sein“ ist das Plateau, das ihm während der Recherche für sein Buch „Die Tyrannei des Schnetterlings“ im Silikon Valley vor dem Absaufen bewahrte. Denn, so erzählte er kürzlich in einer Talkshow, die Menschen dort seien ja alle nett und offensichtlich daran interessiert, die Probleme der Welt zu lösen. Ihr Problem sei allerdings, so Schätzing, dass sie keinen blassen Schimmer von „der Welt“ hätten. Die Ingenieure der Zukunft gehen selbstverständlich davon aus, dass Roboter die besseren Menschen sind: objektiver, strukturierter, ausdauernder, lernfähiger, schneller, smarter und demnächst auch attraktiver anzufassen und anzuschauen. All die Mängel und Befindlichkeiten, mit denen wir uns schwächen und dem Tod entgegendümpeln, sind Maschinen fremd. Was nicht wirklich ein gutes Argument gegen das durchtechnologisierte Morgen ist. Aber was dann?

Was ist dieses Menschliche, für das es einzustehen gilt?

Der Künstler Laurence Philomene (siehe unten) macht Selbstportraits und nutzt dafür andere Personen. Die Idee kennen wir von Prince/Symbol und Arthur Rimbaud.

 

Gefühle als Quell des Handelns, Tiefe ohne Kalkül, Empathie ohne Programm. Wildes Denken das magische Wirkung erzeugt. Carsten Lohmeyer versucht es in seiner heute publizierten Verteidigung von Qualität im Content Marketing gegen Technologiegläubigkeit tatsächlich mit dem Begriff „Magie“:

„Sind die Inhalte nicht magisch, tut man nicht alles dafür, dass man begeisterte, wiederkehrende Nutzer schafft, ist die beste Technologie der Welt sinnlos.“

Es sind ja noch nicht ausschließlich Endgeräte die miteinander kommunizieren, sondern Menschen, die Handys, Tablets und Computer zur Kommunikation nutzen. Doch wer bestimmt, was begeistert und, ja, magisch ist? Lohmeyer schreibt:

„Aber ob und warum ein Artikel wirklich gut ist, darüber können sich ja schon Journalisten lang und ausgiebig streiten. Für Beteiligte, deren bisherige Content-Erfahrung sich darauf beschränkt, Geschäftsbriefe zu verfassen und das Manager Magazin oder Excel-Listen zu lesen, ist es – ganz ohne Vorwurf – fast unmöglich, guten von schlechtem Content zu unterscheiden.“

Ich glaube, dass wirklich gute Inhalte und gute Geschichten von jedem erkannt werden, dazu braucht man keine Spezialausbildung. Das tolle, gerne auch magische daran ist ja gerade die Tatsache, dass berührende Inhalte keine Grenzen kennen. Die funktionieren bei Alten, Jungen, Männern, Frauen und Diversen. Magisch ist, dass es trotzdem keine Formel für den Erfolg gibt – und hier kommt auf überaus angenehme Art und Weise das Menschliche, das Unberechenbare ins Spiel.

„Der Prozess, das Ergebnis und die künstlerischen Konnotationen gefielen Philomene so gut, dass PERSON immer mehr Selbstportrait-Stellvertreter anfragte“, steht in untem erwähnten Vice Artikel. Person = Symbol für den Künstler. Wichtige Utensilien bei der fragmentierten Inszenierung: künstliches Haar und Fake-Nägel.

 

Content Marketing will auch Menschen berühren, möglichst massenhaft, denn es will verkaufen. Dazu sollte es unterhaltsam und hilfreich sein, aber nicht investigativ oder subversiv. Und deshalb kann es auch nie, wie Lohmeyer es als Möglichkeit am Ende seines Textes skizziert, dem klassischen Journalismus gefährlich werden. So wenig wie der Pürierstab dem Staubsauger gefährlich werden kann, nur weil beide Hausgeräte sind. Sie haben komplett unterschiedliche Funktionen, auch wenn beide ggf. mit ähnlichen Technologien arbeiten.

Wenn nun alle User gute, menschlich berührende Geschichten von technisch generiertem Allerweltscontent unterscheiden können, wo liegt dann das Problem?

Es liegt in der kollektiven Entwöhnung.

Kürzlich wollte ich meinen Kindern erklären, warum ich mich einst ins Internet verliebte, nächtelang nicht schlief, weil ich mich in unendlichen YouTube-Sessions verlor und sicher sein konnte, auf „I like my Style“ oder „Antville“ nur mit Leuten zutun haben zu können, die mich umhauten und weiter brachten. Nichts war meinen Konsumpräferenzen entsprechend vorsortiert, überhaupt war Internetnutzung anfangs, wie alle spannenden Spiele, ein Experiment mit offenem Ende.

Heute ist das Internet ein Anderer. Und lange nicht für jeden dasselbe. Es ist vollgestellt mit Billboards, die man schlecht wegklicken kann und Werbecontent, den sich Influencer in den Mund legen und Magazine möglichst „native“ in ihr Layout integrieren lassen. Youngster sind heute online, weil sie sich zeigen, treffen und spielen wollen, weil sie sehen wollen, wie was geht oder wo es möglichst kostenlos Filme zu gucken gibt. Dass der Preis Daten, Werbung und ein vorformatiertes Blickfeld sind, ist für sie normal. Sie wissen nicht, dass es anders sein könnte – und können es sich deshalb auch so schlecht vorstellen.

Doch warum nutzt Laurence Philomene überhaupt noch Personen als Stellvertreter? Warum können diesen Job nicht auch Dinge erledigen?

 

Die aktuelle Ausgabe des Vice Magazine, einem der Gradmesser für jugendliche Befindlichkeit, ist dem Internet gewidmet. Junge Künstler wurden eingeladen, das Netz in den Themenfeldern Privatsphäre, Sexualität, Intimität und Gender zu reflektieren. Auf 106 Seiten hätte viel von dem Platz gehabt, was Schätzing „das Menschliche“ nennt. Stattdessen: Freiwillige Fragmentierung (Laurence Philomene, siehe Bebilderung dieses Textes), Bildschirme als Partnersubstitut (Res), Skurrilitäten wie „Reflectoporn“ (Lotte Reimann) und am Ende die Einsicht, dass der Push für die Entwicklung vieler neuer Technologien aus der Pornoindustrie kommt. Die Künstler zeigen sich in roboterhaften Posen, steif, teils mit fehlenden Gliedmaßen, seltsam standardisiert. So produzieren Leute, die versuchen, das Beste daraus zu machen, dass sie digital entweder als Objekt, als Konsument oder gar nicht stattfinden können.

Vom Subjektiven haben sie sich ganz offensichtlich verabschiedet.